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Wie du für deinen Hund der Ruhepol wirst, bei dem er ausatmen kann

a wooden block that says trust, surrounded by blue flowers

Disclaimer am Anfang: auch wenn sich der erste Teil des Artikels zuerst nicht danach anfühlt, der Bezug zum Hund kommt, versprochen 😉

Letztes Wochenende habe ich spontan P. besucht. P. und ich kennen uns aus dem gemeinsamen ADHS-Gruppencoaching, an dem wir beide teilnehmen und fanden uns von Anfang an sympathisch. Über die Monate hatten wir hier und da sporadisch Kontakt, haben ein bisschen geschrieben und auch ein paar Mal per Videochat miteinander gesprochen und uns ausgetauscht. Anfang der Woche waren wir zum Telefonieren verabredet, weil sich herausgestellt hatte, dass wir beide in herausfordernden Lebensumständen stecken und schauen wollten, ob wir uns gegenseitig ein bisschen unterstützen können. Nach einem langen Gespräch entschieden wir spontan, dass ich am Wochenende zu Besuch kommen würde, weil uns ein Treffen wahrscheinlich guttun würde und nochmal andere Möglichkeiten bieten könnte füreinander da zu sein. Bis dahin hatten wir uns noch nie persönlich gesehen und auch wenn wir immer mal wieder Kontakt hatten, hätte man noch nicht von einer Freundschaft sprechen können. Wir verbrachten das Wochenende mit stundenlangen Gesprächen, Spaziergängen, kochen und Quality Time mit den Hunden.  Ab dem ersten Moment, wo wir uns gegenüberstanden, gab es ein Gefühl des Vertrauens und der Sicherheit, sodass es später das Natürlichste der Welt war sich gegenseitig im Arm zu halten und auch miteinander zu kuscheln. Ich hatte das Gefühl plötzlich die gesamte Anspannung der letzten Wochen ausatmen zu können und einfach nur zu sein und konnte trotz einer an sich nicht besonders rosig aussehenden unmittelbaren Zukunft wieder mit neuem Optimismus nach vorne schauen.

Die Rückfahrt verbrachte ich damit das Treffen zu reflektieren und mein Kopf rauchte bei der Frage, wie es sein konnte, dass ein Mensch, den ich im Prinzip gerade erst vor 24 Stunden richtig kennen gelernt hatte, sich so viel sicherer, vertrauter, näher anfühlen konnte als die meisten meiner Freund*innen, die ich schon viel länger kenne. Ich versuchte zu verstehen, welche Faktoren darüber entscheiden, bei wem ich ausatmen kann und bei wem ich immer noch ein bisschen die Luft anhalte, egal, wie gerne ich die Person mag.

Folgende Aspekte konnte ich dabei identifizieren:

  1. Gesehen und verstanden werden

P. und ich haben beide ADHS und damit sehr ähnlich gestrickte Gehirne. Zusammen mit ähnlichen Lebenserfahrungen, Werten, Empathie und einem vergleichbaren Maß an Selbstreflexion brauchte es keine langatmigen Erklärungen, um uns gegenseitig zu verstehen. Wir konnten beide bei allem, was wir gesagt haben, sofort begreifen und mitfühlen, wie es der anderen Person ging und was sie vermitteln wollte.

  1. Akzeptanz

Wir konnten uns miteinander in all unserer Imperfektion, unserer Emotionalität, unserer Verkopfheit, unseren Ängsten verletzlich zeigen und wussten, dass die andere Person uns bedingungslos so annimmt, wie wir sind. Wir haben uns gegenseitig darin bestärkt ehrlich zu sein, unsere Bedürfnisse zu äußern und Grenzen ausgesprochen und akzeptiert. Wir konnten quirky und weird, lustig und traurig, ernst und herumblödelnd, abgefuckt und hochgradig reflektiert sein – also einfach 100% authentisch – und wussten, dass alles davon für das Gegenüber ok ist.

  1. Grenzen und Bedürfnisse schaffen Sicherheit

Wir wussten nicht nur, dass die andere Person unsere Grenzen und Bedürfnisse akzeptieren würde, sondern auch, dass sie im Zweifelsfall sofort Bescheid sagen würde, wenn etwas nicht passt. Diese Gewissheit gab uns die Sicherheit komplett frei in unserem Handeln zu sein und keine Angst haben zu müssen die andere Person unwissentlich zu verletzen oder ihre Unfähigkeit für sich einzustehen durch übertriebene Vorsicht überkompensieren zu müssen. Außerdem wussten wir, dass das Gegenüber einen Werkzeugkoffer voller Skills und Strategien hat, um auf sich selbst aufzupassen und uns nicht plötzlich mit mehr emotionalem Ballast beladen würde, als wir hätten tragen können.

  1. Einchecken, Gefühlsabgleich, Flexibilität und proaktiv Sicherheitsangebote schaffen

Wir haben uns regelmäßig gegenseitig gefragt, wie es uns gerade geht, die Situation beobachtet, uns gefragt, was wir gerade in diesem Moment voneinander brauchen und im Zweifelsfall den Kurs korrigiert, wenn sich Bedürfnisse geändert haben. Jemanden zu haben, der fragt „Was kann ich gerade tun, um es dir in diesem Moment leichter zu machen?“, schafft sofort Vertrauen und mehr Entspannung.

  1. Kommunikation auf Augenhöhe

Wir konnten uns beide gegenseitig Ratschläge geben und miteinander reden, ohne dass es ein Ungleichgewicht gab. Niemand fühlte sich der anderen Person über- oder unterlegen, wir konnten voneinander lernen und hatten die nötigen Skills das auszudrücken, was wir vermitteln wollten.

  1. Vermittlung von Nähe, Herzlichkeit, Zuneigung und Wärme durch Körperkontakt

Wir Menschen sind soziale Lebewesen und ein Mechanismus, der dafür sorgt, dass wir uns anderen verbunden fühlen und damit durch Gemeinschaft unsere Sicherheit gewährleistet, ist die Ausschüttung von Oxytocin bei Blick- und Körperkontakt mit Bezugspersonen, denen wir vertrauen. Leider ist in unserer Gesellschaft Körperkontakt mit Ausnahmen kurzer Umarmungen zur Begrüßung und Verabschiedung meist auf die Interaktion zwischen Paaren beschränkt, sodass vor allem Singles aber auch Menschen, die sich vielleicht in unglücklichen Beziehungen befinden, chronisch unterkuschelt sind. Oxytocin ist ein Gegenspieler für das Stresshormon Cortisol und sorgt dafür, dass dieses schneller abgebaut wird. Körperkontakt hilft uns also biochemisch wirklich dabei schneller von einem erhöhten Stresslevel herunterzufahren und stärkt die Bindung zu dem anderen Menschen. In dem wir an diesem Wochenende relativ schnell auch eine platonische körperliche Ebene fanden, um unserer Zuneigung zueinander Ausdruck zu verleihen, konnten wir uns gemeinsam co-regulieren (gemeinsam unsere sich im Alarmzustand befindenden Nervensystem wieder in die Entspannung bringen) und gleichzeitig eine Bindung zueinander aufbauen, die auf somatischer (körperlicher) und damit auch irgendwie instinktiver Ebene einen direkteren, sicheren Zugang zueinander erlaubte.

Jetzt fragst du dich wahrscheinlich: Was hat diese persönliche Geschichte jetzt mit Hunden zu tun?

Ganz einfach! Auch Hunde sind komplexe soziale Lebewesen, die aufgrund der Tatsache, dass ihre Gehirne im Aufbau den unseren sehr ähneln (wusstest du, dass Psychopharmaka für die Nutzung im Humanbereich an Hunden getestet werden und deswegen auch in der hündischen Verhaltenstherapie Humanpräparate eingesetzt werden?), in vielerlei Hinsicht absolut ähnlich ticken wie wir. In der Entwicklung sind Hundegehirne grob vergleichbar mit dem eines menschlichen Kleinkindes. Daher können viele Erkenntnisse aus der humanen Bindungsforschung mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Hunde übertragen werden und vieles davon bestätigt sich bereits in Untersuchungen zum hündischen Bindungsverhalten, auch wenn die Forschung hierzu nach wie vor in den Kinderschuhen steckt. (Wenn du dazu mehr erfahren möchtest, kann ich dir sehr die Arbeit von Dr. Iris Schöberl ans Herz legen!)

Wie können wir also die Erkenntnisse, die ich aus dem letzten Wochenende gezogen habe, auf das Zusammenleben mit unseren Hunden übertragen, wenn man sich selbstverständlich nicht mit einem Hund unterhalten kann?

Hier sind meine Ideen:

  1. Beobachten, informieren und verstehen

Bemühe dich deinen Hund richtig gut kennen zu lernen. Beobachte ihn in allen Lebensbereichen, wie er sich wann verhält, was ihm Freude oder Angst macht, was Unsicherheit und Frustration auslöst, was er macht, wenn es ihm nicht gut geht, welche Alltagssituationen im leicht und schwer fallen. Lerne seine Körpersprache richtig zu lesen, achte darauf was er versucht dir mitzuteilen und analysiere neutral und ohne Wertung das Verhalten, um zu verhindern, dass du Dinge zu persönlich nimmst. Je mehr du über deinen Hund lernst und je besser du ihn verstehst, desto feinfühliger kannst du dich auf die verschiedenen Situationen einstellen, in denen er deine Unterstützung braucht und kannst abschätzen, wie viel du helfen musst und was er alleine bewältigen kann. Verändere deine Perspektive von „Mein Hund macht Probleme“ zu „Mein Hund hat ein Problem“, um zu verstehen, dass er selbst Schwierigkeiten hat und dir nicht mit Absicht das Leben schwer macht.

  1. Akzeptiere deinen Hund, wie er ist

Am Anfang aller Veränderung steht die Akzeptanz, denn Widerstand gegen den Status Quo erzeugt unnötigen Stress und verbraucht Impulskontrolle, die du an anderer Stelle besser einsetzen kannst. Dein Hund ist erst einmal so, wie er ist, mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten. Selbstverständlich kannst du versuchen mit ihm gemeinsam an Situationen zu arbeiten, die euch Schwierigkeiten bereiten, aber du wirst aus einem Chihuahua keinen Schäferhund und aus einem Neufundländer keinen Weimaraner machen. Bestimmte Eigenschaften sind in Stein gemeißelt und können nicht oder nur wenig verändert werden. Liebe deinen Hund bedingungslos, auch wenn er dir mal auf den Senkel geht. Wenn du versuchst ihn in eine Form zu pressen, in die er einfach nicht hineinpasst, machst du euch beide auf Dauer einfach nur unglücklich.

  1. Selbstfürsorge und Umgang mit unerwünschtem Verhalten

Als Bezugsperson und verantwortungstragender Mensch ist es dein Job dafür zu sorgen, dass deine eigenen Bedürfnisse erfüllt sind und deine Akkus aufgeladen. Ist das nicht der Fall, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit immens, deinem Hund gegenüber unfair zu werden, weil deine Zündschnur zu kurz ist. Du bist das kognitiv höher entwickelte Lebewesen und mit den damit einhergehenden Freiheiten kommt auch mehr Verantwortung. Im Umgang mit unerwünschtem Verhalten ist die beste Strategie es natürlich gar nicht erst entstehen zu lassen, damit der Hund es nicht üben kann. Funktioniert das nicht, kannst du deinem Hund z. B. immer noch vermitteln, dass er damit keinen Erfolg hat (Pausesignal → ich habe gerade keine Zeit für dich; Leinenlänge → du kommst nicht an den am Boden liegenden Döner heran, kannst du mir ein Alternativerhalten anbieten, anstatt dort hinzuziehen?). Auf diese Art und Weise kannst du Grenzen setzen, ohne dabei übergriffig oder unfair zu werden. Gleichzeitig ist es essentiell, dass du auch lernst die Grenzen deines Hundes zu akzeptieren, dass er diese überhaupt äußern darf und dass du ein Auge darauf hast, dass die Bedürfnisse deines Hundes ausreichend erfüllt werden, damit ihr beide ein zufriedenes, gemeinsames Leben führen könnt.

  1. Situationen individuell analysieren, bewerten und anpassen

Je mehr du über deinen Hund lernst, desto mehr verstehst du, wie er sich in jeder Lebenslage fühlt. Anstatt Pauschalaussagen zu treffen, kannst du genau erkennen, was in diesem spezifischen Moment in ihm vorgeht und individuell anpassen, wie du unter genau diesen Umständen darauf eingehst, anstatt einfach nur Schema F abzuspulen. So lernt dein Hund, dass er sich darauf verlassen kann, dass du immer bestmöglich für ihn da bist und ihm immer so, wie er es gerade braucht, den Rücken stärken kannst. Du bist sein Fels in der Brandung, den er zum Abstoßen, Erkunden, Verstecken und Anlehnen nutzen kann.

  1. Faire Kommunikation

Lerne nicht nur die Körpersprache deines Hundes zu lesen sondern auch die Auswirkungen zu verstehen, die deine eigene ihm gegenüber hat. Bedrohst du ihn unwissentlich beim Geschirranziehen oder beim Rückruf? Schüchterst du ihn in Begegnungssituationen gewollt oder ungewollt ein? Muss er befürchten, dass du in einer für ihn eh schon unangenehmen Situation auch noch zusätzlich Druck ausübst, oder weiß er, dass er in deiner Gegenwart alles zeigen darf, was in ihm vor sich geht? Achte darauf, dass dein Hund keinen Grund hat dich aufgrund deines eigenen Ausdrucksverhaltens als Bedrohung wahrzunehmen, sondern sich immer gerne und entspannt bei dir aufhält.

  1. Sicherheit durch Körperkontakt

Inzwischen ist schon lange wissenschaftlich bewiesen, dass bei Blickkontakt zwischen einem Hund und seiner geliebten Bezugsperson genauso Oxytocin ausgeschüttet wird wie beim Blickkontakt zwischen Eltern und ihren Babies. Auch Körperkontakt ist gerade in oder nach stressigen Situationen für viele Hunde absolut essentiell, um besser herunterzufahren, sich zu regulieren, sich bei dir Trost und Entspannung abzuholen, sich deiner Zuneigung zu versichern und um die Akkus wieder aufzuladen. Massierende, ausstreichende, ruhige Streichelbewegungen oder Kontaktliegen können Oxytocin ausschütten, Cortisol abbauen und dadurch Stress reduzieren und eure Bindung zueinander stärken. Sei für deinen Hund der sichere Hafen, in den er immer einparken kann, wenn er eine gehörige Portion Liebe braucht. Achte dabei nur darauf, dass dein Hund die Berührung in diesem Moment wirklich genießen kann und möchte und zwinge ihn nicht dazu Kontakt auszuhalten, den er gar nicht haben möchte.

Wenn du dich bemühst diese Ideen in den Umgang mit deinem Hund zu integrieren, wirst du immer mehr und häufiger erleben dürfen, wie er wortwörtlich in deiner Gegenwart wohlig und tief ausatmet und die Anspannung nach und nach seinen Körper verlässt, weil du zu seinem Ruhepol geworden bist, wo er einfach so sein darf, wie er ist.

Und wollen wir nicht alleine einfach irgendwo ankommen und mit allem, was wir sind, herzlich, empathisch und liebevoll angenommen werden?